Im Gantertal – Adolf Imhof
Nachdem das Freie Theater Oberwallis 1996 Büchners «Woyzeck» im Alten Werkhof aufführte, steht nun Adolf Imhofs «im Gantertal» auf dem Programm. Die Gebildeten mögen verzeihen, dass ich mir anmasse, Imhof im gleichen Atemzug mit Büchner zu nennen; bei allen qualitativen Unterschieden – und die sind riesig – ist ihnen doch eines gemeinsam: sie schrieben Texte für die Bühne. Und leider gibt es wenig Oberwalliser Dramatiker und noch weniger, die spielbar sind. Selbst Imhofs Singspiel «Gantertal» ist mehr episch denn dramatisch, und dass es zum wohl bekanntesten Oberwalliser Singspiel werden konnte, liegt wohl weniger am «Libretto» als am Liedgut. Dass der Spieltext nicht voll zu überzeugen vermag, daran sind kaum die Themen «Schuld», die abgehandelt werden, sondern die Länge und episch breite Ausführlichkeit, mit der Imhof alles zwei-, wenn nicht dreimal darlegt und erklärt. So war bei der Bearbeitung des Stücks eine meiner Hauptaufgaben, die dramatischen Komponenten herauszufiltrieren, den Ballast ins Gantertobel zu werfen und so eine schlanke dramatische Spielfassung zu erstellen, ohne dabei das Original zu verfälschen.
Das von Imhof 1947 geschriebene Stück spielt Mitte des 17. Jahrhunderts. Als Ausgangspunkt wählte er die alte Walliser Sage vom Johanneli Fy, die in der Taferna Wirtin war und aus Wasser Wein gemacht haben soll – für Bibelfeste nichts Neues! Um dieses Skelett hat Imhof verschiedene historische Themen gruppiert: der Simplonpass als Verkehrsader, durch die Ballufiehrer und Pilger pulsieren; die Ganterburgerschaft; der grosse Stockalper mit seinen Bergwerken; der schwarze Tod. Die Sagen sind eines der klassischen Kulturgüter des Oberwallis, vielleicht gar unser einzigartigstes. Und dadurch, dass Imhof den historischen Johanneli Fy-Stoff in den Mittelpunkt stellt, diesen mit anderen historischen Geschehnissen verwebt, wird das ganze selber zur Sage, zur Mythologie.
Macht, Liebe, Tod. Drei menschliche und dramatische Urthemen, die im 17. Jahrhundert, 1947 und heute essentielle und existentielle Bedeutung hatten und haben. Macht, Liebe, Tod – und über allem lastet der Katholizismus. Das Oberwallis und der Katholizismus: will man das Oberwallis verstehen, muss man die Geschichte und die Ideologie des Katholizismus kennen und begreifen.
Adolf Imhof ist Pfarrer, er schreibt das Stück in einer Zeit des Umbruchs, der Industrialisierung, des Aufkommens des Tourismus – die Moderne bricht übers Oberwallis herein. Und die Pfarrherrn predigen auf Teufel komm raus. Für Pfarrer Imhof ist klar: die Macht wird durch die Kirche legitimiert, die Liebe durch die Kirche sanktioniert, der Tod durch die Kirche expliziert. Und heute, in einer Zeit in der 35-jährige von der Werbung als jung verkauft werden, damit ja alles beim Alten bleibt? Heute wirkt das Stück nicht mehr konservativ oder reaktionär, sondern nur noch wertkonservativ. So relativ ist die Postmoderne: wer gestern jung war, ist es heute nicht mehr.
Macht, Liebe, Tod. Und Auswandern: Ein Binner kommt über den Saflisch ins Gantertal und will weiter, die Ganter zieht`s nach Brig, Zumsteg verlässt die Heimat, Antonia geht nach Sitten. Ein Oberwalliser Thema. Aber: kein Auswandern ohne Einwandern; Auswandern und Einwandern sind siamesische Zwillinge. Wir sind die Fremden.
Imhof hat sein «Gantertal» auf Hochdeutsch geschrieben. Anlässlich der Aufführung 1982 im Stockalperhof schreib Albert Carlen: «Auch hätte man sich vorstellen können, dass die Wirkung einheitlicher gewesen wäre, wenn ein sprachbegabter Mundartdichter das etwas «papierene Hochdeutsch» des Sprechtextes den Liedern angelichen hätte».
Ja, es ist ein gewisses Paradoxon: gesungen wird in Dialekt, gesprochen auf Hochdeutsch. Wenn wir an Imhofs Zeit zurückdenken, leuchtet es ein: Dialekt-Volkslieder sammeln – ja, aber ein Gelehrter in Dialekt schreiben – nein. Heute würde Imhof sein Singspiel sicherlich in einer Dialektfassung auf die Bühne bringen. Warum wir trotzdem die Originalfassung spielen? Das «papieren Hochdeutsch» ist so papieren nicht, eher barock, füllig. Und artifiziell. Dies erlaubt es, das Stück besser zu stilisieren, zu abstrahieren. In Anlehnung an das griechische Theater trenne ich in dieser Inszenierung Chor und Spiel. Die Ganter singen nicht selbst, es sind die armen Seelen, die das Streben und Sterben der Menschen kommentieren, reflektieren. Der Sprechtext ist der Kopf, das Liedgut die Seele. Die arme Seele – geschunden im täglichen Kampf um Macht, Liebe, Tod; erst im Tod kann die Seele atmen, leben.
Hermann Anthamatten