Der gute Mensch von Sezuan – Bertolt Brecht
Von der Freundlichkeit, der Hilfsbereitschaft und der Solidarität.
Mythen: Gott oder Götter kommen auf die Erde, um nach den Guten, den Gerechten zu sehen, um sie zu prüfen, sie zu verführen: Sodom, Philemon und Baucis, Zeus. Auch nach Sezuan kommen drei Götter: Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können. Und sie finden einen, und zwar in einer Hure. Diese ist aber kein erotisches, männermordendes Weib, keine Boheme. Nein, der Expressionismus ist 1940 Geschichte. Die Prostituierte Shen Te ist eine liebes- und liebensfähige junge Frau. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft zeichnen sie aus. Nur aus purer Not verkauft sie sich als Ware. Aber Shen Te kann nicht nur gut sein. Ihre Solidarität mit den Menschen würde sie vernichten. Sie muss sich in ihren hartherzigen Vetter Shui Ta verwandeln, um sich vor ihren Nachbarn und Freunden zu schützen. Das Harte, Schlechte als die dialektische Kehrseite des Guten, Freundlichen – die materielle Voraussetzung. Der Engel der Vorstädte benötigt in seiner Not den Tabakkönig.
Shen Te als Metapher für den modernen Menschen, der sich spalten muss um in einer durchkapitalisierten Welt zu bestehen. Nur gut sein, heisst scheitern. Shen Te zu den Göttern: Euer einstiger Befehl, gut zu sein und doch zu leben, zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Gut sein zu mir und zu andern konnte ich nicht zugleich.
Ach, eure Welt ist schwierig. Shen Te ist keine reale Figur, sie ist ein Konstrukt, das Modell eines guten Menschen, der liebt, lebt und fühlt: Ich will mit dem gehen, den ich liebe./ Ich will nicht ausrechnen, was es kostet./ Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist,/ Ich will nicht wissen, ob er mich liebt./ Ich will mit ihm gehen, den ich liebe.
Ernüchtert stellen wir fest: es funktioniert nicht. Ist Shen Te naiv, dumm gar? Und wir? Ahnen wir, wissen wir, dass man so nicht leben kann? Der „Vetter“ Shui Ta oder Shen Te’s Liebhaber Yang Sun scheinen uns realer, wirklicher. Sie scheinen uns vernünftiger und logischer zu agieren und zu reagieren. Moderne Menschen halt, deren Handeln uns nicht unbekannt ist. Wenn Sun erkennt, dass die Gesellschaft nicht gerecht ist, dass sie nicht den kompetenten, sondern den bezahlenden Flieger einstellt, unterwirft er sich mühelos diesem korrupten System. Shen Te könnte seine wahre Liebe sein, in dieser Welt muss sie seine Ware Liebe sein. Er kann weder auf Shen Te’s Gefühle noch auf ihre materielle Situation Rücksicht nehmen. Sein Aufstieg zum Vorarbeiter in Shui Ta’s Fabrik ist ein Musterbeispiel für das Verhalten eines Karrieristen. Um sein berufliches Ziel zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht, muss ihm recht sein. Ein Unmensch? Nein, er handelt kalt rational. Und Shen Te würde wohl fragen: Wer kann ihm böse sein?
Und die Götter? Ihre Forderung, Shen Te müsse nur gut leben und alles werde gut, erweist sich als nutzlose Leerformel. Phrasendrescher. Sie sind nichts als Betrachtende, die in das Wirtschaftliche nicht eingreifen können oder wollen und sich in ihr sicheres Nichts zurückziehen, wenn’s kritisch wird. Ethik? Ja, aber ohne Wirtschaft, bitte! Oder umgekehrt.
Der gute Mensch von Sezuan ist eine Parabel, in der Brecht seine Idee des epischen Theaters bis zur Perfektion treibt. Songs unterbrechen die Handlung und kommentieren das Geschehen, Figuren stellen sich selbst vor und immer wieder wenden sie sich direkt ans Publikum. Als revolutionär wird der Einsatz der bis dahin nur im Film verwendeten Rückblende bezeichnet: Frau Yang berichtet dem Publikum, wie aus ihrem Sohn Yang Sun ein nützliches gesellschaftliches Objekt geworden ist, unterbrochen durch die Handlung in der Fabrik, wo sich ihr Sohn als brutales Subjekt, als Sklaventreiber outet. Das Publikum soll fühlen, es soll denken. Die vielfach verwendeten Zitate chinesischer Sinnsprüche verleihen dem ganzen einen exotischen Touch – ohne aber ein reales China zeigen zu wollen, denn Sezuan ist überall.
Der wohl bekannteste Satz des Stücks: Der Vorhang zu und alle Fragen offen – der Schluss als offenes Ende: Wir sollen uns selber einen Schluss denken. Sollen wir nach Hause gehen und an einer neuen gesellschaftlichen Utopie basteln? Oder sollen wir uns fragen, wie es um unsere Solidarität, unsere Freundlichkeit, unsere Hilfsbereitschaft steht? Wäre ja immerhin ein Anfang.
Hermann Anthamatten