OEDIPUS
Oedipus wird als Kind von seinen Eltern ausgesetzt, weil seinem Vater geweissagt wurde, dass sein Sohn ihn eines Tages umbringen wird. Dank einem Diener überlebt Oedipus und wächst bei einem kinderlosen Königspaar auf. Aber auch ihm wird Schreckliches geweissagt: Er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Um diesem Fluch zu entgehen flieht er und wird gerade dadurch zum Vatermörder und Muttergatten, der sich schlussendlich selber entlarven muss.
Viele Autoren haben sich mit dem Oedipus-Stoff auseinandergesetzt. Aus der griechischen Antike sind die zwei Tragödien von Sophokles überliefert: «König Oedipus» und «Oedipus auf Kolonos». Aber auch die anderen grossen griechischen Dichter Aischylos und Euripides haben sich mit dieser Geschichte auseinandergesetzt. Ebenso der römische Dichter Seneca. Aus der Neuzeit kennen wir Fassungen von Corneille, Voltaire, Hölderlin, Hoffmannsthal, Gide, Cocteau und vielen mehr bis hin zu aktuellen «Überschreibungen» im modernen Theater.
So wird eine alte Sage immer wieder neu erzählt, vielleicht mit anderen Schwerpunkten, aber doch meistens im Geiste der ursprünglichen Geschichte.
Autor und Regisseur Hermann Anthamatten nimmt die Geschichte des Ödipus und seiner Familie, um sich mit der Frage nach Verantwortung, Schuld, Schicksal des Einzelnen und der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Obwohl seit Sigmund Freuds «Oedipus-Komplex» die Geschichte nie mehr ohne «Psychoanalyse-Brille» gelesen werden kann, geht es ihm nicht um eine Deutung im Freud’schen Sinne. Im Zentrum steht der Mythos mit der Frage, was dieser unserer modernen individualisierten Gesellschaft zu sagen hat.
Eine Frage stand für Hermann Anthamatten vor Beginn des Schreibprozesses im Zentrum:
Wie kann dieser antike Stoff einem Publikum in Brig 2020 so präsentiert werden, dass es nicht zu einer bildungsbürgerlichen Theaterreise wird, sondern lebendiges Theater entsteht, ohne dass der Geist des Mythos verraten wird?
Dabei hat er sich folgenden Überlegungen leiten lassen:
● Die Dialoge der Protagonisten sind in Walliser Dialekt verfasst. Dieses Vorgehen ermöglicht eine luzidere Form sowie ein direkteres Interagieren der Personen.
● Der Sprechchor dient einerseits als Kommentar, andererseits als Treiber der Handlung. Ganz im Sinne von Brechts Epischem Theater, was ja wiederum der Theorie der griechischen Tragödie entspricht: Handlung und Reflexion.
Als V-Effekt hilft dabei die Sprache: Der Chor spricht Hochdeutsch in gebundener Sprache.
● Ein Musiker begleitet und kommentiert live die Handlung, und zwar mit einem Oud. Mit diesem Instrument aus dem Vorderen Orient wird eine Verbindung zwischen «Mittelmeer-Raum» und «Alpinem-Raum» hergestellt und die archetypische Erzählung verstärkt. Die Klammer Orient-Okzident wird sichtbar, die Ursprünge unserer Kultur werden lebendig.