Woyzeck – Georg Büchner
Woyzeck, Soldat und Barbier, rasiert täglich seinen geschwätzigen Hauptmann; von dem Doktor, einem Fanatiker der Wissenschaft, wird er für Experimente missbraucht. Das so verdiente Geld bringt er seiner Geliebten Marie, die ein Kind von ihm hat. Als sie ihn mit einem Tambourmajor betrügt, und Woyzeck dies erfährt, bringt er Marie um. Schluss.
Woyzeck ist eine historische Figur: 1821 bringt der Frisör Johann Christian Woyzeck seine Geliebte mit mehreren Messerstichen um. Fall und Motiv scheinen klar: Mord aus Eifersucht – ein klassisches Beziehungsdelikt, will doch die Geliebte nichts mehr mit dem heruntergekommenen Woyzeck zu tun haben; sie vertreibt sich die Zeit lieber mit anderen Soldaten. Nachdem eine Zeitung berichtet, Woyzeck habe unter Bewusstseinsstörungen gelitten, wird der Fall heftig in der Öffentlichkeit diskutiert: Woyzeck wird auf seinen Gesundheitszustand untersucht, wobei der Gutachter ihn als voll zurechnungsfähig taxiert, auch wenn er eine unstete Natur, mit viel moralischer Verwilderung sei. So wird das Todesurteil gefällt. Nochmals aber tauchen Zweifel auf: ein früherer Dienstherr von Woyzeck berichtet von Verstandesverwirrungen, auch der Gefängnisgeistliche weiss von Geschichten und Träumen die Woyzeck gehabt haben will. In diesen Wahnbildern sollen ihn Freimaurer verfolgt haben, und am Himmel will er drei feurige Gesichter gesehen haben.
In einem zweiten Gutachten ist nun die Rede von einer rasenden Eifersucht, vom steten Gedanken an sein Kind, das er mit einer anderen Frau hat, auch über Quälereien im Dienst durch Offiziere. Aber der Arzt bleibt bei seinem ersten Befund . . . So wird der Frisör Woyzeck 1824 in Leipzig hingerichtet.
Der Arzt Büchner hat sich für dieses «psychiatrische Urteil» interessiert, aber er hat nicht einfach diesen tragischen Fall rapportiert. Nein. Den Psychiater interessiert die Frage, was Woyzeck zu dieser Wahnsinnstat treibt. Und die Antwort scheint klar: der Wahnsinn. Büchner genügt diese Erklärung nicht, er geht einen Schritt weiter, ihn interessieren noch andere, existentielle Fragen: Was treibt den Menschen in den Wahnsinn? Wieweit ist der Mensch in seiner Existenz von Umständen abhängig, die nicht in seiner Macht liegen? Warum kann der Mensch keinen Einfluss darauf nehmen? Wodurch wird das menschliche Schicksal bestimmt?
Die soziale Lage als Treiber: Die gesellschaftliche Situation bedingt Woyzecks «Handeln». Vor allem im Gespräch Hauptmann – Woyzeck wird klar, dass auch hier das Sein das Bewusstsein bestimmt, dass der moralische Standpunkt eine Standesfrage ist. Büchner zeigt eindrücklich, wie Woyzeck durch seine soziale Gebundenheit immer tiefer sinkt, sinken muss.
Überall werden ihm Tugend, Moral und Willensfreiheit gepredigt, und er unterwirft sich diesem gesellschaftlichen Diktat, obwohl er sieht, spürt und fühlt, dass er diesen Anforderungen nie gerecht werden kann. Er bleibt sprachlos, chancenlos, Gefangener seiner metaphysischen Bilderwelt – Gott hat ihn verlassen, Bibelzitate füllen die Leere.
Überall wird Woyzeck als Sache, als Objekt, als Mittel zum Zweck benutzt. Mensch ist er nur bei seiner Marie und ihrem gemeinsamen Kind. Aber auch dieses private Glück unterliegt den Gesetzen der «realen» Welt, die sozialen Umstände zerstören die Basis: der Tambourmajor, Sinnbild einer klar gegliederten, hierarchischen Machtstruktur, nimmt Woyzeck die Frau weg. So bleibt nur das Messer. Aber Woyzeck bringt nicht seinen Nebenbuhler um – nein, er bringt sein Liebstes, sein Einziges um. Und damit sich selbst. Lebensumstände bedingen die Tat. Alles scheint so klar. Und doch bleibt vieles im Dunkeln: Warum reagieren die meisten Leute anders? Gibt es einen gesellschaftlichen Ausweg? Oder bleiben nur Mitleid und Liebe mit der geschundenen, leidenden Kreatur? Büchners Woyzeck, 1836 geschrieben, uraufgeführt 1913, eines der grossen Werke der dramatischen Literatur, eine Tragödie, die ihre Wurzeln in der griechischen Tragödie hat. Ein 160 Jahr altes Fragment und doch von erschütternder Aktualität. Mord und Totschlag, psychiatrische Gutachten – und exorzistische Psychopharmaka und homöopathische Esoterik als Heilmittel.
Ja, wir leben in finsteren Zeiten, auch wenn wir sie virtuell heissen – Internetz und Cyberraum als goldene Kälber. Die Zeitungen mit grossen Lettern und Hollywood mit blutigschönen Bildern zeigen uns die Woyzecks, die Maries, ja die ganze Menage, schlachten sie aus, und wir weiden uns an ihrem Leiden. Ohne Furcht, Schrecken, Mitleid. Nein. Für Katharsis fehlt die Zeit. Wir müssen surfen und zappen – gefangene Objekte unserer physischen Bilderwelt.
Hermann Anthamatten