Woyzeck – Georg Büchner

Der Soldat Woyzeck ist ein armer Hund. Gegen Bezahlung rasiert er seinen bornierten Hauptmann, der sich über sein Wissen und seine Moral lustig macht, und stellt sich einem wahnsinnig-fanatischen Arzt als Versuchskaninchen zur Verfügung.

Das Geld, das er dafür kriegt, bringt er seiner Marie, mit der er ein uneheliches Kind hat. Marie, dieses Vollweib, betrügt ihn mit dem Tambourmajor, einem Löwen von Mann. Als Woyzeck von diesem «Betrug» erfährt, ist es um ihn, der schon seit längerer Zeit psychisch angeschlagen ist und Stimmen hört, vollends geschehen. Er verteilt seine Habe und geht mit Marie vor die Stadt. Dort ersticht er Marie, sein Einziges, und wirft das Messer in den Teich. Von Angst gepackt, man könnte das Messer finden, geht er in den Teich um es weiter rauszuwerfen.

Woyzeck, Soldat und Barbier, rasiert täglich seinen geschwätzigen Hauptmann; von dem Doktor, einem Fanatiker der Wissenschaft, wird er für Experimente missbraucht. Das so verdiente Geld bringt er seiner Geliebten Marie, die ein Kind von ihm hat. Als sie ihn mit einem Tambourmajor betrügt, und Woyzeck dies erfährt, bringt er Marie um. Schluss.

Woyzeck ist eine historische Figur: 1821 bringt der Frisör Johann Christian Woyzeck seine Geliebte mit mehreren Messerstichen um. Fall und Motiv scheinen klar: Mord aus Eifersucht – ein klassisches Beziehungsdelikt, will doch die Geliebte nichts mehr mit dem heruntergekommenen Woyzeck zu tun haben; sie vertreibt sich die Zeit lieber mit anderen Soldaten. Nachdem eine Zeitung berichtet, Woyzeck habe unter Bewusstseinsstörungen gelitten, wird der Fall heftig in der Öffentlichkeit diskutiert: Woyzeck wird auf seinen Gesundheitszustand untersucht, wobei der Gutachter ihn als voll zurechnungsfähig taxiert, auch wenn er eine unstete Natur, mit viel moralischer Verwilderung sei. So wird das Todesurteil gefällt. Nochmals aber tauchen Zweifel auf: ein früherer Dienstherr von Woyzeck berichtet von Verstandesverwirrungen, auch der Gefängnisgeistliche weiss von Geschichten und Träumen die Woyzeck gehabt haben will. In diesen Wahnbildern sollen ihn Freimaurer verfolgt haben, und am Himmel will er drei feurige Gesichter gesehen haben.

In einem zweiten Gutachten ist nun die Rede von einer rasenden Eifersucht, vom steten Gedanken an sein Kind, das er mit einer anderen Frau hat, auch über Quälereien im Dienst durch Offiziere. Aber der Arzt bleibt bei seinem ersten Befund . . . So wird der Frisör Woyzeck 1824 in Leipzig hingerichtet.

Der Arzt Büchner hat sich für dieses «psychiatrische Urteil» interessiert, aber er hat nicht einfach diesen tragischen Fall rapportiert. Nein. Den Psychiater interessiert die Frage, was Woyzeck zu dieser Wahnsinnstat treibt. Und die Antwort scheint klar: der Wahnsinn. Büchner genügt diese Erklärung nicht, er geht einen Schritt weiter, ihn interessieren noch andere, existentielle Fragen: Was treibt den Menschen in den Wahnsinn? Wieweit ist der Mensch in seiner Existenz von Umständen abhängig, die nicht in seiner Macht liegen? Warum kann der Mensch keinen Einfluss darauf nehmen? Wodurch wird das menschliche Schicksal bestimmt?

Die soziale Lage als Treiber: Die gesellschaftliche Situation bedingt Woyzecks «Handeln». Vor allem im Gespräch Hauptmann – Woyzeck wird klar, dass auch hier das Sein das Bewusstsein bestimmt, dass der moralische Standpunkt eine Standesfrage ist. Büchner zeigt eindrücklich, wie Woyzeck durch seine soziale Gebundenheit immer tiefer sinkt, sinken muss.

Überall werden ihm Tugend, Moral und Willensfreiheit gepredigt, und er unterwirft sich diesem gesellschaftlichen Diktat, obwohl er sieht, spürt und fühlt, dass er diesen Anforderungen nie gerecht werden kann. Er bleibt sprachlos, chancenlos, Gefangener seiner metaphysischen Bilderwelt – Gott hat ihn verlassen, Bibelzitate füllen die Leere.

Überall wird Woyzeck als Sache, als Objekt, als Mittel zum Zweck benutzt. Mensch ist er nur bei seiner Marie und ihrem gemeinsamen Kind. Aber auch dieses private Glück unterliegt den Gesetzen der «realen» Welt, die sozialen Umstände zerstören die Basis: der Tambourmajor, Sinnbild einer klar gegliederten, hierarchischen Machtstruktur, nimmt Woyzeck die Frau weg. So bleibt nur das Messer. Aber Woyzeck bringt nicht seinen Nebenbuhler um – nein, er bringt sein Liebstes, sein Einziges um. Und damit sich selbst. Lebensumstände bedingen die Tat. Alles scheint so klar. Und doch bleibt vieles im Dunkeln: Warum reagieren die meisten Leute anders? Gibt es einen gesellschaftlichen Ausweg? Oder bleiben nur Mitleid und Liebe mit der geschundenen, leidenden Kreatur? Büchners Woyzeck, 1836 geschrieben, uraufgeführt 1913, eines der grossen Werke der dramatischen Literatur, eine Tragödie, die ihre Wurzeln in der griechischen Tragödie hat. Ein 160 Jahr altes Fragment und doch von erschütternder Aktualität. Mord und Totschlag, psychiatrische Gutachten – und exorzistische Psychopharmaka und homöopathische Esoterik als Heilmittel.

Ja, wir leben in finsteren Zeiten, auch wenn wir sie virtuell heissen – Internetz und Cyberraum als goldene Kälber. Die Zeitungen mit grossen Lettern und Hollywood mit blutigschönen Bildern zeigen uns die Woyzecks, die Maries, ja die ganze Menage, schlachten sie aus, und wir weiden uns an ihrem Leiden. Ohne Furcht, Schrecken, Mitleid. Nein. Für Katharsis fehlt die Zeit. Wir müssen surfen und zappen – gefangene Objekte unserer physischen Bilderwelt.

Hermann Anthamatten

1813
Am 17. Oktober wird Georg Büchner in Goldau bei Darmstadt geboren.

1816
Zieht die Familie nach Darmstadt, wo der Vater Bezirksarzt wird.

1825
Eintritt ins Darmstadter Gymnasium.

1831
Am November Studium der Medizin an der Universität Strassburg. Büchner wohnt bei dem Pfarrer Jaegelé, mit dessen Tochter Minna er sich 1833 verlobt.

1833
Beginn des Studiums an der Universität Giessen.

1834
Im März gründet er mit Studenten und Handwerkern die Giessner Sektion der «Gesellschaft der Menschenrechte» und verfasst die Flugschrift der «Hessische Landbote» («Friede den Hütten! Krieg den Palästen!»).

1835
Um der drohenden Verhaftung zu entgehen, flieht Büchner nach Strassburg. Das Drama «Dantons Tod» erscheint. Arbeit an der Fragment gebliebenen Erzählung Lenz.

1836
Mit einer Arbeit zum Bau des Nervensystems insbesondere der Flussbarbe wird Büchner im September zum Dr. phil. promoviert. Arbeit an dem Lustspiel «Leonce und Lena» und dem Trauerspiel «Woyzeck». Im Oktober Übersiedlung nach Zürich; Privatdozent an der Universität Zürich.

1837
Ende Januar erkrankt Büchner an Typhus. Er stirbt am 19. Februar.

«Büchner war ein Rebell, Marx ein Revolutionär. Büchner empörte sich über die Zustände, Marx sah sein Denken durch die Zustände bestätigt, Büchner sah den Menschen an sich selber scheitern, Marx übersah den Menschen. Büchner war Realist, er sah im Verhältnis zwischen Armen und Reichen das einzige revolutionäre Element in der Welt. Hinter Marx wird Hegel sichtbar, dessen von Fichte übernommene Dialektik, These, Antithese, Synthese, das Blut stampfende Schreiten des Weltgeistes durch die Zeit.»

Friedrich Dürrenmatt

Personen und ihre Darsteller

Woyzeck – Elmar Regotz
Andres – Stefan Frey
Marie – Carmen Werner
Margreth – Esther Grichting
Ausrufer – Margot Venetz Schmidhalter
Hauptmann – Emil Walker
Tambourmajor – Markus Berchtold
Doktor – Diego Clausen
Erster – Margot Venetz Schmidhalter
Zweiter – Wolfgang Eggel
Jude – Arthur Huber
Narr – Beat Walker
Grossmutter – Silvia Sieber
Wirt – Wolfgang Eggel
Käthe – Esther Gischig
Regie – Hermann Anthamatten
Regieassistenz – Nina Zäch
Bühnenbild – Hans Fux, Diego Clausen
Musik – Frank Sieber
Garderobe – Karin Britsch
Plakat – Daniel Salzmann
Beleuchtung – Karl Schmidhalter
Maske – Johannita Mutter, Hanni Derendinger, Tildi Egger, Elsbeth Ruppen, Beatrice Eyer
Flyer – Carmen Werner, Diego Clausen
Programmheft – Carmen Werner, Diego Clausen
Photos – Gilbert Gsponer

Eindrucksvoll und bedrückend . . .
Datum: 20. April 1996
Zeitung: Walliser Bote
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Woyzeck – Sinnbild für den Geschundenen
Datum: 16. April 1996
Zeitung: Walliser Bote
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Das Freie Theater Oberwallis spielt «Woyzeck»
Datum: April 1996
Zeitung: Agenda
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10 Jahre Freies Theater Oberwallis: Experiment im Rampenlicht
Datum: April 1996
Zeitung: VS Magazin
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